15 Jahre Shui Tang: die Mutation, der Tee und Gongfucha
15 Jahre Shui Tang: die Mutation, der Tee und Gongfucha
Warum fühlen wir uns angezogen von alten Dingen? Zum Beispiel von Gongfucha? Ist die Schönheit der Grund oder die Vorstellung von der langen Zeit des Existierens?
Für mich liegt das Geheimnis dieser Anziehung in der Fähigkeit von Gongfucha zur Selbst-Erneuerung. Dinge, die die Veränderung des menschlichen Bewusstseins überdauern, besitzen eine innere Kraft. Sie sind unberührt vom Wandel der Epochen und dem Wechsel der Kulturen. Sie sprechen Menschen auf einer unbewussten Ebene an, es ist wie ein Ruf.
Und woher erhält die Menschheit den Impuls, sich weiterzuentwickeln? Immer wieder die alte Position zu verlassen und Neuland zu beschreiten? Kommt dieser Drang ebenfalls aus dem Unbewussten? Eine unfassbare Strömung, die uns vorwärtstreibt, während das Bewusste unter den Druck des Aussen gerät?
Unsere Welt befindet sich in grosser Veränderung. Unsicherheit herrscht. Shui Tang, als ein Fenster zur Welt, unterliegt dem Einfluss der Bewegung der Zeit. Alle wissen, etwas Anderes muss kommen. Aber wie und was? Eine Rekombination? Oder etwas völlig Neues, wie eine Mutation? Wie können wir dazu beitragen, das Bewusstsein zu klären? Durch sofortiges Handeln? Durch Blockieren? Oder indem wir Tee trinken und abwarten?
Wenn etwas im Aussen passiert, beobachtet ein Tee-Mensch das Geschehen und nimmt gleichzeitig die innere Veränderung wahr. Emotionen, Gefühle und Gedanken kommen und gehen. In der inneren geistigen Aktivität offenbart sich eine Identifikation mit alten Bildern, zum Beispiel in Vorstellungen von Täter und Opfer oder im Einnehmen von Wunschrollen wie der Figur der Maria, des Messias oder eines Märtyrers. Diese alten Bilder kommunizieren stets mit unserem Inneren und verlieren nie ihre Wirkungskraft. Sie treten dann ins Bewusstsein, wenn dieses sich weiterentwickelt und freier wird. Gleichzeitig wird einem die sich nach Veränderung sehnende, leise sprudelnde Strömung des Inneren bewusst. Dann entsteht etwas Neues im Leben. Eine Beziehung kann sich entwickeln, und Verhaltensmuster können sich ändern, damit so ein neues Gefäss entsteht, das in sich Transformation birgt.
Dies ist eine vereinfachte Beschreibung des Rosarium Philosophorum, des berühmten Texts der Alchemisten, der symbolisch den Weg der inneren Wandlung aufzeigt. Ich wage es, mir das Bild dieses Rosengartens zu leihen, um den Verwandlungsprozess auf dem Teetisch darzustellen: der Tee als Sinnbild des Merkurbrunnens, dessen Raum Gegensätze umfasst und ein Gefäß bildet für das Neue. Wenn das Bewusstsein anfängt zu mutieren, können Gegensätze geklärt, gereinigt und integriert werden. Durch jeden Aufguss auf dem Teetisch findet der Prozess immer wieder statt. Der Anfang ist gleichzeitig das Ende. In diesem Kreislauf mutierten erst unser Bewusstsein und dann unsere Haltung zur Welt.
Warum sprechen wir hier über eine Mutation anstatt über eine Transformation oder einen Wandel? In der fernöstlichen Kultur, vor allem im Zen-Buddhismus, versucht man das plötzliche Begreifen einer übergreifenden Sichtweise zu beschreiben. Der „magische“ Moment, in dem ein Mensch – zutiefst berührt – auf einmal eine nicht vorhergesehene neue Erkenntnis erlangt, wird als „Erleuchtung/Wu“ bezeichnet. Doch das ist nicht ein singulärer Moment, sondern er ist hervorgegangen aus einem langen Prozess des Wandels. Im Vergleich dazu veranschaulichen der Begriff Transformation oder der poetische Begriff Wandlung zwar die Entwicklung einer Öffnung zu etwas Anderem, aber das Geschehen des Unerwarteten bringen sie nicht zutreffend zum Ausdruck. Zwar könnte die Bezeichnung Mutation negativ konnotiert werden, sie drückt aber eben gleichzeitig den Prozess der Veränderung und das Eintreten des Unvorhersehbaren aus.
Es ist vielleicht genau jene Eigenschaft des Gongfucha, die diese Form von Magie auf uns ausübt, weiter an ihn zu glauben und ihn zu praktizieren, egal in welchem Zeitalter und in welcher Kultur.
Der Teetisch gibt keine Antwort auf die Geschichte, sondern schafft einen grossen Rahmen, bevor wir uns eine Meinung bilden. Bei jedem Aufguss wird ein neuer Kreislauf angeregt. Während des Wiederholens kann man am Teetisch noch einmal den Geschmack des Tees erleben und vertiefen. Das Gleiche geschieht in unserem Prozess der Mutation des Bewusstseins. Reflexion, Reinigung and Erneuerung wiederholen sich in einem Kreislauf. Eine Heilung kann geschehen. Anfang ist gleich Ende. Das Ende verkündet den Anfang. Liebe offenbart sich genau im Übergang – wo die Dunkelheit endet, die Dämmerung anbricht und das Licht sich blicken lässt. Dort beginnt der Prozess. Der Übergang ist für die Alchemisten der Merkurbrunnen des Rosariums und für Teeliebhaber der Teetisch des Gongfucha. Das ist ein wunderbarer Rahmen für eine Mutation.
Vielleicht kann ich hier mit einem Gedicht von Rilke diesen ambivalenten und oft melancholischen Prozess des Änderns veranschaulichen:
Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr gross.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.
Befiel den letzten Früchten, voll zu sein;
Gibt ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süsse in den Schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben. (Herbsttag 1902)
Die Zeit vergeht. Vergänglichkeit ist das Gesetz. Trotz des neigenden Endes des Wachstums verlieren wir den Zugang zum Schöpferischen nicht. Der Herbst im Leben ist fruchtbar. Er ist fruchtbar, weil der Suchende einen Rahmen schafft. Man geht bewusst in die Einsamkeit, während die Aussenwelt sich wandelt und Dinge sich auflösen. Die Einsamkeit im Herzen schafft einen Rahmen, der leisen Strömung in uns zuzuhören, damit ein Ändern stattfindet. Man kann sich der Welt wieder öffnen, weil die Zerrissenheit des Inneren eine Heilung erlebt. Somit kann sich das im Aussen Vergangene und Aufgelöste wieder zu etwas Neuem formieren.
Gongfucha gibt keine Antwort für die Suchenden. Er hilft uns dabei, uns diesen grossen Rahmen stets vor Augen zu führen und den Prozess der Verwandlung in unserem Leben lebendig zu pflegen.
Shui Tang lädt Sie ein, diesen Rosengarten am 03.11.2024 bei einem Tee mit Teemusik zu betreten. Zu diesem Anlass servieren wir Ihnen zwei besondere Tees aus mutierten Teepflanzen - Hong Erduo Gushu Puer 2024 und Shanjing No. 1 2009 Oolong.
Zu diesem 15. Jubiläum stellen wir außerdem unsere zwei inspirierenden Jubiläumstees vor, Gukeng Qingxin Oolong 2024 und Xiangchunlin Gushu Puer 2024.
Meng-Lin Chou, Herbst 2024